Wenn man in Japan sagt, man übe Sōjutsu, kommt als Reaktion in der Regel die Frage "Sō… was?" Wenn man daraufhin sagt, "Yari (Speer)", antwortet der Gesprächspartner meistens mit, "ach, Speer", unterstützt von einer werfenden Geste.
Kein Wunder. Auch in Japan weiß kaum jemand, was Sōjutsu ist oder dass es Sōjutsu heute immer noch gibt.
Und die Vorstellungen davon, wenn es denn überhaupt welche gibt, sind durch Film und besonders durch Fernsehserien, in denen ein komplett realitätsfreies Bild vom Umgang mit Speeren gezeichnet wird, meistens gründlich verdorben. Im besten Fall bleiben die Bilder aus Filmen Kurosawa Akiras im Gedächtnis, die Pulks von konzertiert mit Speeren, langen Speeren, ja sogar überaus langen Speeren arbeitenden Pikenieren zeigen. Und ja, diese Infanterieeinheiten hat es tatsächlich gegeben, sie wurden sogar zur wichtigsten tatktischen Einheit auf den Schlachtfeldern Japans zum Ende der Sengoku-Zeit hin. Oda Nobunaga wird nachgesagt, er habe trotz der Vorteile, die Pfeil und Bogen und - damals neu - Musketen hatten, bewusst auf den Speer als Schlacht entscheidende Waffe gesetzt.
Unter den Begriff Sōjutsu fiel und fällt dieser Umgang mit dem Speer allerdings nicht. Sondern Sōjutsu, wörtlich "Speerkunst", bezeichnet den Einsatz des Speers als hochkomplexe individuelle Fechtwaffe, mit der man weit mehr tun kann als nur zu stechen, sei es nun zu Fuß oder zu Pferde (leider gibt es heute keine Schule mehr, die letzteren Einsatz des Speers noch lehrt). Als solche war der Speer bzw. der kampfkünstlerische Umgang mit ihm auch eher den höheren Rängen des Kriegerstandes vorbehalten und nichts, worin Ashigaru (Infanteristen/Krieger untersten Ranges) ausgebildet worden wären.
Der Umstand, dass bis in die Edo-Zeit hinein Sōjutsu normalerweise nicht in (städtischen) Dōjōs geübt wurde, sondern dass Wissen um Speertechniken innerhalb der Burgmauern* und unter den Angehörigen des Kriegsadels eines jeden Fürstentums blieb, ist ein Hauptgrund dafür, dass die Zahl der Speer-Schulen im Vergleich zu Schwert-Schulen gering blieb, was wohl auch für die Anzahl der "Aktiven" in dieser Kunst gesagt werden kann. Diese kleine Basis wiederum ist mitverantwortlich für das fast komplette Aussterben des Speerfechtens in Japan. Ein anderer Faktor ist sicherlich, dass der Speer während des langen Friedens der Edo-Zeit seine Bedeutung als (Kriegs-) Waffe einbüßte. Dafür wurde er tatsächlich zum Symbol des Kriegsadels. So war jedem Fürsten vorgeschrieben, wie viele Speere in welcher Aufmachung er bei seinen Prozessionen mitführen lassen musste.
Die wenigen Schulen, die sich auf den Speer konzentriert haben und heute noch aktiv sind, sind:
Darunter ist die Hōzōinryū die einzige Schule, die noch vor der Edo-Zeit entstanden ist. Drei dieser vier Schule haben sich auf den Gebrauch eines bestimmten Speertyps spezialisiert, was wiederum ein Grund dafür sein mag, dass es sie heute noch gibt. Und zwar setzt die Hōzōinryū einen Jūmonji Kamayari ein (der Kata-Partner einen Suyari) , die Owari Kanryū einen Kudayari und die Saburiryu einen Kagiyari (der Partner in den Kata einen Kozuyari). Die Fūdenryū benutzt einen Suyari von 2 Ken (364 cm) Länge.
Daneben lehren einige klassische Schulen AUCH den Gebrauch des Speers, allerdings in der Regel eher mit dem Hintergedanken, dass ein Schwertkämpfer den Speer kennnen muss, um gegebenenfalls gegen ihn bestehen zu können. dazu gehören u.a.
Interessanterweise stammen diese integrierten Systeme alle aus der Vor-Edo-Zeit. Das Sōjutsu innerhalb dieser Schulen wird ausnahmslos mit Kozuyari (kurzer Suyari von 273 cm Länge) geübt.
Sōjutsu wird heute nur noch von sehr wenigen Menschen ausgeübt. Das gilt für die dezidierten Schulen wie für die integrierten. In den letzteren steht der Umgang mit dem Speer in der Regel auch nicht am Anfang, sondern ist sehr fortgeschrittenen Schülern vorbehalten.
Ganz explizit war das zum Beispiel in der Owari Kanryū der Fall, die nicht außerhalb des Daimyats Owari (das heutige Nagoya und seine Umgebung) unterrichtet werden durfte. Eine Ausnahme stellt hier sicherlich die Hōzōinryū dar, weil nicht kriegsadligen sondern klerikalen Ursprungs und ab Anfang der Edo-Zeit in Dojos überall in Japan gelehrt.
Natürlich gibt es auch integrierte Systeme, die Sōjutsu beinhalten, in deren Zentrum nicht das Schwert steht, wie beispielsweise die Todaha Bukōryū oder die Yōshinryū, die beide auf den Gebrauch der Naginata spezialisiert sind.